Referentielle Kunst
Pascal Unbehaun, 2005
Seit einigen Jahren begegnet man in der internationalen Ausstellungspraxis einer Entwicklung, die das Publikum auf eine neue Art und Weise fordert. Gemeint sind Werke, die in ihrem Erscheinungsbild so nah an Erzählgenres außerhalb der Kunst sind, daß die Kunst sich von diesen fast nicht unterscheidet. Die Kunst sieht also nicht aus wie Kunst, weil ihr sozusagen das „künstlerische“ fehlt. Was aber ist dieses künstlerische eigentlich? Das Erkennen von Kunst wird erlernt - eine bemalte, gerahmte Leinwand in einer Galerie weist auf Kunst hin. Es gibt also eine gewisse Anzahl von Merkmalen, anhand derer wir Kunst von Nichtkunst unterscheiden. Fehlen diese, kann es schwierig werden, etwas als Kunst zu erkennen, auch wenn es welche sein soll. Zumindest aber stellt sich die Frage, wie solche Arbeiten - in Abwesenheit eines offensichtlichen kreativen Eingriffs - zu lesen sind. Wer die documentaXI besucht hat, wurde oft mit solcher Kunst konfrontiert. Kann man Hanne Darbovens monumentales, die zentrale Achse der documentaXI bildendes Werk "Kontrabassolo, opus 45" noch der Konzeptkunst zurechnen, gibt es doch die Richtung vor: Storytelling, (Re-)writing the code, Dokumentation, Vermittlung sind die großen Themen. Sie sind nicht neu. Aber viele dieser Werke stellen sich auch in ihrer Präsentation so stark in den Dienst dieser Themen, daß die anlässlich solcher Großausstellungen gerngestellte Frage "ist das (noch) Kunst" einen neuen Klang bekommt. Wo ist bei einem mit Untertiteln versehenen und auf einem Monitor gezeigten Interview über das Thema Stadtentwicklung die Kunst? Wo in Joelle Tuerlinckx' Assemblage aus Diaprojektoren, Monitoren und Beamern? Was ist mit Videokunst, bei der der Künstler nur einen Datenträger liefert und die Präsentation in der Black Box vom Kurator übernommen wird? Fast scheint es so, als würde die Kunst nach einem Jahrhundert der Durchbrechung von etablierten Grenzen ihrer selbst nunmehr die Selbstverdauung beendet haben und den Spielraster verlassen. Die Kunst bewegt sich in ihr eigenes Komplement. Aber ist nicht, um in der Terminologie der Mengenlehre zu bleiben, Kunst nur dann Kunst, wenn sie eine echte Teilmenge der Welt darstellt - um sich von ihr abzuheben und diese Welt aus der Distanz zu betrachten? Und wenn die Schutzhülle der Austellungshalle wegfiele, würde diese Kunst dann nicht den Wärmetod sterben?1 Ich nehme meine Antwort auf diese Frage vorweg und behaupte, diese Kunst kann bestehen, indem sie auf Kunst verweist oder referenziert. Ich glaube, daß der Zusammenhang mit der erwähnten Schutzhülle kein Zufall ist, denn die Frage, wer hier eigentlich wen schützen muss, scheint von den Ereignissen überholt worden zu sein.
Die Referenz. Wohin mit dem Begriff?
Wenn wir über Kunst sprechen, dann haben wir meist bestimmte Kategorien im Hinterkopf, die in jeder Kunstform eine Rolle spielen.
Die Referenz ist das Bindeglied zwischen Signifikant und Signifikat, den beiden „Seiten“ des Zeichens. Ohne sie ist das Gemälde vom Apfel nur Farbe auf einer Leinwand, welches keinerlei Verbindung zu einem Apfel in unserer Vorstellung besitzt. Die Wahl der Referenz als "Hauptkategorie" mag zunächst etwas hoch gegriffen erscheinen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber einerseits, daß die Verbindung von Apfel und Leinwand nicht mehr ganz so selbstverständlich ist, wenn die Dinge etwas komplizierter liegen. Andererseits hat der Begriff auch außerhalb der Kunst höchste Bedeutsamkeit erlangt, wodurch er sich als Thema für Kunst anbietet. Diese Kunst, die sich der Kritik stellen muss, dass sie eher ein Verweis auf Kunst ist als Kunst an sich, will gerade die Natur dieses Verweises ergründen.
Man könnte die Referenz verdächtigen, lediglich den Werksbegriff auflösen zu wollen: alles soll Kunst sein, auch wenn es nicht so aussieht. Das wäre anachronistisch und im postmodernen Kontext unglaubwürdig. Man kann eher mit einer Verschiebung des Werkbegriffes rechnen. Eine Verschiebung erlaubt eher, die neu erweckte Aufmerksamkeit bezüglich des Themas auch auf gewissermaßen unschuldige Werke anzuwenden - analog zur Dekonstruktion in der Literatur.2 Ich möchte allerdings keine neue Kunstrichtung beschwören. Ich spreche als als Betrachter, nicht als Künstler – ich schlage eine Möglichkeit der Annäherung an diese Kunst vor.
Was bedeutet der Begriff?
Das Wort "Referenz" steht im Bezug zum engl. "to refer to", der eigentliche Wortstamm ist jedoch (re-)ferre, lat. = (zurück-)tragen, wiederbringen. Dies ist auch die Herkunft des Begriffs "Differenz" = "dis" + "ferre" = auseinandertragen, aus welchem Derrida seine "Différance" entlehnt hat.3 Der "Referendar" ist ursprünglich also einer, der die Akten aus dem Archiv holt. Brockhaus4 definiert die Referenz als "Bezugnahme auf ein außersprachliches Bezugsobjekt mittels eines sprachlichen Zeichens". Es können natürlich auch "innersprachliche Bezugsobjekte“ sein, ebenso nichtsprachliche Zeichen. Es ist interessant, daß die Referenz hier und an anderen Stellen durch die Begriffe "Bezug/Beziehung", "Verweis" und "Hinweis" definiert wird. Sind dies nicht Synonyme? Ohne die Frage allzu pedantisch angehen zu wollen kann man sagen, daß die Referenz offenbar ein elementarer, wenn nicht axiomatischer Begriff ist. Als Beispiel sei das Internet genannt. Dort wird die Referenz zum Prinzip erhoben: Der für den Benutzer sichtbare Teil besteht hauptsächlich aus Verweisen (Links). Wissen, das früher im Ortsraum angeordnet war – z.B. in verschiedenen Bibliotheken – wird nun im Raum der thematisch benachbarten Informationen angeordnet. Referenzen strukturieren die Art und Weise, wie Wissen aufbereitet und abgerufen wird. Unsere Welt ist voll von Referenzen, sie kann immer mehr als Menge von Referenzen gedacht werden. Der Begriff eignet sich zur Analyse von zahlreichen Zusammenhängen. Baudrillards Idee der Simulation z.B. kann erklärt werden durch das Überhandnehmen von Referenzen auf andere Referenzen.
Referentielle Kunst
Wie betrachten, wie „verstehen“ wir üblicherweise Kunst, welche Rolle spielen Referenzen dabei? Ich möchte dafür einige teils fiktive Beispielwerke heranziehen. Beginnen wir mit einem surrealistischen Gemälde. Als solches, d.h. als gerahmte, bemalte Leinwand ist es sofort als Kunst zu erkennen – sogar, wenn es nicht in einer Galerie oder Ausstellung hängen würde. Unsere Aufmerksamkeit widmet sich also sofort dem Inhalt: wir versuchen die Stilrichtung zu erkennen und schauen, was der Künstler gemalt hat. Vielleicht setzen wir auch unbewusst voraus, daß es sich um ein autonomes Einzelwerk handelt, das mit etwas Erfahrung ganz gut ohne Detailkenntnisse über den Maler und sein weiteres Werk verstanden werden kann. Möglicherweise versuchen wir das Bild zu „lesen“ oder zu interpretieren. Eher weniger wichtig dürfte für viele Betrachter der Vergleich mit anderer Kunst sein. Die Frage, ob und wie der Maler mit Dali oder Tanguy in Beziehung steht ist nur eine Frage von vielen. Sie stellt sich nicht unbedingt als allererste, etwa bevor man überhaupt einen groben Überblick über die Darstellung gewonnen hat. Dasselbe gilt für den Bezug des Werks auf andere Kunststile. Da der Surrealismus als eine eigene Kunstrichtung gesehen wird, kann das einzelne Werk sich gewissermaßen auf einen interpretatorischen Kanon verlassen.
Betrachten wir nun das zweite Werk, eine Skulptur aus geformtem und bemalten Schrott, wie sie z.B. von John Chamberlain gemacht werden. Sie stellt den Betrachter etwas härter auf die Probe. Man könnte sicher über viele Aspekte dieser Skulptur sprechen, etwa ob der Künstler damit eine Provokation gegen künstlerische Könnerschaft beabsichtigt oder nicht. Was jedoch nicht in Frage gestellt werden wird ist, ob es sich hier überhaupt um Kunst handeln soll. Das ist nämlich an vielen Zeichen klar erkennbar: Der Kontext eines Museums weist darauf hin, ebenso die für Schrott unübliche Form und Bemalung des Objekts – Verfremdungseffekte verraten die Kunst. Eventuell steht das Objekt auf einem Museumssockel und trägt ein Schild mit Titel und Entstehungsjahr. Die Referenz – hier wird sie nun aber schon deutlicher zu erkennen – auf eine traditionellere Form des Skulpturbegriffs fällt sofort ins Auge. Dieser Bezug auf, sagen wir, eine traditionelle Marmorstatue ist somit so deutlich, daß er trotz der Abweichung eher den Effekt hat, daß die Kunst noch klarer zu erkennen wird. Dennoch sind wir hier schon beim Begriff der Referenz angelangt. Entwickelt sich eine Kunstrichtung weiter, so entsteht eine Abgrenzung zu ihrer eigenen Vorgeschichte, aber eben auch ein Bezug dazu.
Der dritte Werktypus – diesen möchte ich etwas näher untersuchen - ist mir z.B. auf der documentaIX aufgefallen. Dort hatten Fareed Armaly und Rashid Masharawi5 viele Video-Informationsterminals aufgebaut, wie man sie in ähnlicher Form von Messen kennt. Verschiedene Formen von Tischen und Sitzgelegenheiten konnten von den Besuchern genutzt werden, um auf Monitoren Videos zu sehen und (mittels Kopfhörer) zu hören. Weiteres Text- und Bildmaterial war an den Wänden zu sehen. Viele Besucher erschienen gehörig verwirrt. Manche suchten nach einem Ansatzpunkt, einer Stelle, von der aus sie sich das Werk erschließen konnten, so wie man in einem Gemälde ein besonders auffälliges Bildelement betrachtet und es in Beziehung zum Rest des Bildes setzt. Doch das Werk bietet auf den ersten Blick wenig Möglichkeiten dazu. Einerseits sind die verwendeten Elemente (Tische, Bänke, Monitore, Fotokopien etc.) nicht sofort als Kunst zu erkennen. Andererseits ist alles über eine große Fläche verteilt und nicht auf einmal einsehbar, eine Abgrenzung zu benachbarten Werken oder zur Ausstellungshalle selbst gibt es nicht. Der Betrachter kann also nicht so etwas wie die gewohnte Perspektive eines Galeriebesuchers einnehmen, der eine lebensgroße Statue erst von einigen Metern Entfernung aus betrachtet und sich dann nähert, um Details zu erkennen. Andere Besucher ignorierten solcherlei Fragen und näherten sich direkt einem der Terminals – es schien als gingen sie wie selbstverständlich davon aus, daß es hier um den Inhalt der Videos ging. In jedem Fall befand man sich also in einer Art begehbaren Skulptur: wir müssen die Welt des Werkes betreten, weil das Werk unsere Welt betritt.
Wie die Kunst in unsere Welt eindringt
Betrachten wir zwei Aspekte des zuletzt beschriebenen Kunstwerks. Es zeichnet sich aus durch eine Verneinung und eine Bejahung. Verneint wird z.B. eine geschlossene, überschaubare Form. Es ist schwierig zu sagen, wo das Werk anfängt und wo es aufhört. Das liegt einerseits sicherlich an den räumlichen Gegebenheiten, in die sich das Werk wie selbstverständlich einpasst. Die Schrottskulptur in der Galerie hebt sich klar als Kunst vom umgebenden Raum ab, hingegen könnte das Werk von Armaly und Masharawi auf den ersten Blick ein Infostand der documenta-Betreiber sein und überhaupt kein Kunstwerk. Ein offensichtlicher künstlerischer Eingriff fehlt nämlich, irgendein Zeichen, an dem man Kunst erkennt. Dies könnte z.B. ein Verfremdungseffekt sein wie im Beispiel der Schrottskulptur: Durch das aus seinem Zusammenhang gerissenen Material wird die Skulptur als Kunst erkennbar. Die Videoterminals hingegen sind, was sie sind, und sie tun, was sie tun. Sie sehen aus wie Infoterminals und können durch die Besucher auch als solche genutzt werden. Und in genau dem Moment betreten sie unsere Welt. Sie gehören schon rein optisch nicht mehr zur Welt der Kunst – sie sehen aus, wie etwas, was wir aus der realen Welt kennen. Und es handelt sich nicht etwa um eine Fälschung, sie sind, was sie zu sein scheinen. Konnte die Kunst seit einiger Zeit kein weiteres Tabu, keine weitere formale Grenze mehr durchbrechen kommt nun eine neue Entwicklung aus einer völlig anderen Richtung: Die Kunst verzichtet darauf, Kunst zu sein - oder zumindest, wie welche auszusehen. Sie mischt sich somit ins „wahre Leben“ ein.
Wie die Kunst auf die Welt referenziert – und auf andere Kunst
Schaut man genauer hin, enthält das Werk von Armaly und Masharawi natürlich jede Menge künstlerischer Eingriffe, vom Design der Möbel über die Anordnung und Präsentation der Texte an den Wänden bis hin zu den Schriftbändern auf dem Boden. Allerdings sind sie zurückhaltend und stehen nicht alleine, sie begleiten eine Funktion. Es ist eigentlich paradox: Der Betrachter wird in eine ihm aus anderen Zusammenhängen bekannte Umgebung oder Situation gebracht, indem auf dramatische künstlerische Eingriffe verzichtet wird. Andererseits bereitet genau dies den Boden für die Wirkung dieser Kunst: Es wird keine künstlerische Verfremdung erkannt oder erwartet, aber wenn sie dann doch kommt kann sie den Betrachter subtiler erreichen, weil er – evtl. ohne es zu merken – sich in eine Situation begeben hat, die das Werk ihm anbietet. Diese Situation kann man also zum Werk dazurechnen. Nun findet all dies aber in einer Ausstellungshalle statt. Das Infoterminal ist kein Infoterminal, es ist eine Skulptur. Betrachten wir das ganze Ensemble als das, was es sein will, nämlich Kunst, so enthüllen sich zahllose Referenzen auf Themen innerhalb wie außerhalb der Kunst. Wo ist hier der kreative Akt, wo der künstlerische Eingriff? Was will dieses Werk vermitteln – geht es wirklich um den Inhalt der Videos oder um den Begriff der Informationsvermittlung selbst? Was ist mit dem Skulpturbegriff? In einem zweiten Schritt wird man dann evtl. die Rezeption dieser Kunst selbst in Frage stellen: Was wird von Betrachter eigenlich erwartet, soll er die Filme wirklich anschauen? Gibt es überhaupt einen roten Faden, dem man folgen kann? Plötzlich erscheint einem die ganze Situation viel weniger plausibel als zu Beginn. Statt sich inhaltlich zu enträtseln, indem die gezeigten Filme klare Bezüge auf einen irgendwie gearteteten Inhalt vermitteln weist das Werk aus sich hinaus auf ganz andere Fragen. Statt ein bekanntes Formenrepertoire der Kunst zu bedienen, verweigert sich das Werk diesem und verweist nur auf die Kategorien der Kunst selbst, wobei die Natur dieser Referenzen unscharf bleibt. Sie liegen anscheinend in unserer Erwartungshaltung begründet, die irgend etwas „sicheres“ sucht, an dem wir uns festhalten können. Kunst ist hier nicht primär eine Sicht der Welt, sondern ein Magnet, Attraktor und Multiplikator von Referenzen zwischen der Kunst und der Welt. Diese Kunst ist gleichzeitig monströs und dezent, sie steht zwischen Kunst und Welt, tritt aber weit zurück um die beiden Kontrahenden in einen Dialog zu verwickeln.
Wie schauen?
Betrachten wir ein impressionistisches Gemälde von ganz nah, so zerfällt es in viele Pinselstriche und -Tupfer. Bei einem referentiellen Kunstwerk ist es ähnlich. Betrachtet man es von weitem, sieht es aus wie eine Skulptur (weil man eine erwartet). Nähert man sich, so erkennt man die Funktion, und es erscheint einem als ein Objekt, das eben natürlicherweise diese Funktion besitzt. Bei noch genauerem Hinschauen fallen einem die Verfremdungseffekte und künstlerischen Eingriffe auf, man ist wieder auf einem anderen Gleis. Die größtmögliche Annäherung ist die Nutzung der angebotenen Funktion (z.B. im obigen Beispiel das Video zu schauen). Diese tatsächliche Reihenfolge hängt natürlich vom jeweiligen Werk ab. Nun wird zu einem Gemälde nie gesagt, welches der optimale Betrachtungsabstand ist. Wir schauen auf die Weise, die uns enthüllt, was wir sehen wollen. Referentielle Kunst ermöglicht uns dasselbe in komplizierterer Form, sie erweitert also auch die Möglichkeiten des Betrachters. Die Kunst hat mit seiner Welt zu tun, nicht nur mit der des Künstlers.
Ein anderes Beispiel: Thomas Hirschhorn
Das Thema der Referenz stellt eine weitere Entwicklung in der Kunst dar. Diese hat keinen revolutionären Charakter, sie besteht im Gegenteil darin, die Merkmale, an denen wir Kunst erkennen schlicht zu vermeiden und auf Kunst im hergebrachten Sinne zu referenzieren. Natürlich arbeitet jede Kunst mit Referenzen. Die Tendenz, die ich herausstellen möchte bezieht sich darauf, daß neben dem inhaltlichen Aspekt auch ästhetisch so deutlich referentiell gearbeitet wird, daß die Referenz an sich zum Thema wird. Auf der documentaXI findet sich ein Beispiel, das mit etwas anderen Mitteln ähnliche Effekte erzeugt. Thomas Hirschhorn zeigt sein "Bataille Monument", eine Arbeit aus einer vierteiligen Reihe6. Das Monument besteht aus mehreren Komponenten: Einer Ausstellung über Georges Bataille, einer Bibliothek, einer Getränke-/Essensbude - alle aus Holz gefertigt, einer Skulptur aus seinen typischen Materialien wie Holz, Klebeband, Pappe etc, einer Reihe von Workshops, einem TV-Studio, aus dem gelegentlich im "Offenen Kanal Kassel" gesendet wird sowie einer Webseite. Weiterhin einem Fahrdienst (Fahrzeuge und Fahrer), der die Besucher zum Monument bringt, denn es liegt abseits des Kerns der documenta XI in einem sozial schwachen Stadtviertel. Jugendliche aus diesem Viertel (genauer gesagt, aus einem lokalen Boxclub) halfen gegen Bezahlung beim Aufbau. Hirschhorn selbst formulierte über die Arbeit einen eher partizipatorischen Ansatz: Für ihn sei Kunst ein Mittel um "die Welt kennezulernen". Eventuell entfaltet sein Werk natürlich beim "Betrachter" u.U. ganz andere Assoziationen. Hirschhorn entzieht sich den traditionellen Erwartungen an ein Kunstwerk - nicht durch Verweigerung, sondern indem er zahlreiche andere Genres bedient, denen er dann seine Handschrift gibt. Es gibt somit mindestens zwei Lesarten des Bataille Monuments (das Werk referenziert also auf zwei unterschiedliche Signifikatgruppen). Die eine versteht das Werk eher als das, was es vorgibt zu sein. D.h., es geht tatsächlich um Bataille, die Einbindung sozial unterprivilegierter Jugendlicher in ein Projekt, die Auslegung des Begriffes "Monument" und so fort. Die zweite Lesart könnte man "kunsthistorisch" nennen: Welche Ausdrucksmittel verwendet der Künstler, wie ordnet sich sein Werk in die Kunstszene ein? Hirschhorn selbst gibt uns einige Hinweise7: "Es ist ein künstlerisches Engagement" und "Das Bataille Monument ist keine Kontextarbeit (...)". Es habe nichts mit Kassel zu tun (es befindet sich ja auch nicht einmal auf dem documenta-Gelände). Es werden also Elemente gezeigt, die im kunstfremden Kontext eine alltägliche Funktion haben (Bibliothek, Imbissbude etc). Hirschhorn verwendet diese aber auch genau in diesem Sinne. In der Imbissbude gibt es tatsächlich etwas zu essen, sie steht nicht als sinntransformiertes "Objekt" im White Cube. Was das Monument überhaupt noch von der Alltagsbedeutung seiner Einzelteile abhebt ist die Intention des Künstlers, die Willenserklärung der documentaXI, daß es sich um einen Teil der Kunstausstellung handele sowie die besondere Ausführung mithilfe von Materialien, die typisch für den Künstler, aber nicht unbedingt für die Objekte sind. Dem Betrachter wird eine Ahnung von, eine Erinnerung an Kunst vorgespiegelt - es ist alles da, das Tafelbild, die Skulptur, die Performance, das Konzept. "Da" im Sinne von "es wird darauf verwiesen", ebenso wie sich die unterschiedlichen Komponenten des Monuments untereinander referenzieren. Noch einmal: Jede Kunst arbeitet mit Referenzen. Hirschhorns Objekte hingegen kommen ursprünglich aus dem Museumskontext und werden nun ihrer eigentlichen Bedeutung zugeführt. Seine Bibliothek ist in der Tat eine Bibliothek und wird auch so benutzt. Hirschhorns persönliche, künstlerische Motive können durchaus von den hier genannten abweichen. Die Produzenten denken nicht notwendigerweise referentiell. Aber ihre Arbeiten können referentiell gedacht werden.
In diesem Zusammenhang ist mir der Text „Das Ende der Ausstellungskunst“ von Stefan Beck8 aufgefallen. Er stellt fest, daß die Künstler im White Cube an die Grenzen dessen gekommen sind, was dort noch erreicht werden kann. Beck fragt sich, was mit der Kunst geschieht, wenn sie nicht mehr ausgestellt wird. Im übertragenen Sinne könnte dies auch als das Verlassen eines bestimmten Produktionsmodus verstanden werden: Der kreative Akt, der künstlerische Eingriff verliert an Bedeutung. Die Kunst verläßt den Spielplatz des Museums und betritt die wirkliche Welt. Mir scheint, daß die Kunst sich neben sich selbst stellt um ihrem traditionellen Themenkreis zu entkommen. Offenbar empfinden einige Künstler diesen themenkreis als ausgereizt. Das bunteste, monochromste, größte, realistischste oder beeindruckendste Bild ist schon gemalt, die skurilste Skulptur schon geformt worden. Im Ausstellungskontext hat sich die Wirkung auf das Leben außerhalb der Kunst als begrenzt herausgestellt. Man wagt Schritte nach draußen. Somit steigt - dies stellt auch Beck fest - der Bedarf an Kunstvermittlung. Oder an Vermittlungskunst.
1 Jeff Koons, "Equilibrium" 2 Pil Dahlerup "Dekonstruktion - Die Literaturkritik der 90er". 1998, Gruyter 3 "Kluge - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache", 24. Aufl., 2002. DeGruyter 4 "Brockhaus Enzyklopädie in 24. Bd.", 19. Aufl., F.A. Brockhaus, Mannheim 1992 5 Documenta11_Plattform 5: Ausstellungsorte, Hatje Cantz Verlag, 2002 6 Spinoza Monument (1999 Amsterdam), Deleuze Monument (2000 Avignon), das erwähnte Bataille Monument der dXI und eine noch nicht realisierte Arbeit über Antonio Gramsci. 7 http://www.kunstwissen.de/fach/f-kuns/o_pm/hirsch00.htm |