Die einen sagen es so: Eine Theorie muss die Wahrheit aus dem Dunkeln, in dem sie lagert, hervorholen. Die anderen sagen anderes: Im Dunkeln ist nur das Dunkle.
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Theorien* (Schmitz VI)
von Andreas Clausing
Freundlich wird der Hut gezogen. Der Ziehende ist unser Jason jr.! Am vereinbarten Ort steht
er und kam zu diesem bestimmt pünktlich. So stehend stand er vor unserem Erscheinen am
Straßenrand des Schillerplatzes und erschien gewiss den Glotzköpfen in den kreisenden Autos
als ein Bild von Einsamkeit und Verlassenheit [Armut?]. Über derartige Anschauungen und
über das Wartenmüssen macht sich Jason jr. keine Gedanken. So wird es auch in der Zeit vor
unserer Ankunft gewesen sein: Er machte sich nichts daraus [warten zu müssen, was er ja gar
nicht tat, denn:]. Denn er machte sich - statt zu warten - seine großartigen Gedanken, die er
früher immer zu bezahlten Berufsgedanken werden ließ, machte sich also keine seinem
objektiven Wartezustand abzuleitende Sorgen, sondern stattdessen allgemeinste Sorgen in
der Unterwelt seiner von ihm so geliebten metaphysischen Gedanken. Wir [seine Freunde und
Darling Diane] sind etwas spät dran. Im Popshop an der Hauptstraße lag eine Bestellung für
uns bereit, die wir nicht einen weiteren Tag haben warten lassen können. Und dann
entdeckten wir noch dies, und Diane entdeckte noch das. Dies und das dauerte die Zeit ab, die
uns jetzt zum Pünktlich[gewesen]sein fehlt! Abgelenkt steht Jason jr. scheinbar geduldig vor
der empfehlenswerten Konditorei Schmitz, die auch die backfrisch duftende Bäckerei und das
gemütliche Café Schmitz ist. Er zeigt uns mit dem Hutwink seine Höflichkeitsveranlagung;
zeigt mit ihm auch, dass er uns erwartungsgemäß wiedererkennt. Näher gekommen und bei
ihm angekommen sehen wir, dass er mit seiner Aufmerksamkeit, die ihm zurück in seinen
tiefen Metagedanken geflutscht ist, uns und Diane wieder verlassen hat. Das erfreut uns und
wir schwenken unsere Einkaufstüten. So wissen wir gleich, ihm geht es gut.
In den Rund der Hausfassaden, in den inneren Grünanlagenkreis des Schillerplatzes mit den
schweren Bäumen drunter und drauf, Bäumen mit wechselnden Juckhunden dran, Bäumen mit
müden Sing- und Meckervögeln drin, fällt der Schatten schneller Wolken. Wir reden mit Diane
aus Baltimore über unseren [gelegentlichen] und den [nun täglichen] Freund ihrer Mutter; der
ungleich auch Dianes Freund sein darf. Reden nahe bei Jason jr. über Jason jr. aus Seattle und
seinen Hut. Darf man fragen, was unter ihm verborgen wäre? Das darf man! meint unsere
talentierte Diane und sieht im vorderen Schmitzschaufenster den Zwiebackjungen mit den rosa
umrandeten Blassbäckchen beim Zwiebäckchenwerben zu. Und? fragen wir. Das gefärbte und
ungefärbte Alter wird ein wenig verborgen, hat ihn Jason aufgesetzt. flüstert sie, flüstert das
erfahrene Kind, dem die Schule in O. keinen Spaß macht. Oh ja! stimmen wir unserer
Begleiterin zu: Sein Alter erkennen wir jetzt, sehen wir ihn barhäuptig, so wie wir es kennen.
Aber es [sein Alter, das wir, weil wir seinen Besitzer gut kennen, datumsgenau kennen] ist
nicht leicht zu schätzen. Ohne Hut sieht sein Kopf jünger aus, als sein Buckel dahinter ihn
macht. wir zu ihr und, weil es uns spontan in den Sinn kommt, weiter: Das Alter hat seine
Verehrer in den Kleidern. Man streift und streichelt, reibt den Stoff. An der freien Haut aber
dreht man nicht, man kneift sie nicht. Mag sein ... meint Diane so leise, dass wir es noch
hören können, nicht aber Jason jr. hören könnte, und wir dann weiter: Anderes unter der
Hutstelle bleibt auch hutlos verborgen. Die Hirnhaut [die Dura Mater]. Und ein wenig tiefer -
nicht nur für uns unsichtbar – die dort hockende Tiefsinnigkeit, daneben die abgeschlagenen
Köpfe des letzten Traumes in einer kalorienreichen Schaukel, und in einer Falte [oder Ritze]
pulsierend der aktive Jason jr. Vorentwurf. Wir warten darauf, dass Jason jr. sich frei gibt, und
wir mit diesem öden Hutgespräch aufhören können. Diane leert und putzt sich die Nase. Doch
der Hut lässt uns noch nicht in Ruhe.
Phänomenaler Vorentwurf ... ruft Jason Zack jr. leise und kniffäugelig und dreht dabei seinen
Hut. Was steckt in diesem Vorentwurf? wollen wir wissen und auch, ob er das sich im Moment
vorentwerfende Denken gleich zum ersten oder zweiten Tässchen Bohnenkaffee und zur
allgemeinen Betrachtung als Entwurf auswerfen und erörtern [aufblähen] wird? Diane kennt
das Schmitz und Jason jr.s Vorstellungen im Schmitz schon. Wir nicht.
Freundlich wird der Hut vom Besitzer, unserem Freund, der uns vor dem Schmitz zwar hört,
aber nicht zuhört, den wir über den dünnen Wolken nach unserer ersten oder zweiten Las
Vegas Reise kennenlernen durften und später nach dem VWB forschen ließen, wieder auf den
Kopf mit dem [vorderen] nachdenklichen Denker- und Gelehrtengesicht abgelegt und
niedergedrückt. Etwas zerknautscht sehen sie [der gedankenlose Hut und der gedankenpralle
Hutträger] jetzt aus. Bitte: die Hauptsache ist doch, dass er [der Hut den Huträger] trocken
und warm hält. denkt Diane sicher sicherlich über die modische Ignoranz; worüber zweifellos
unser Manni aus der Wartburgstraße mit Garantie anders denken würde, das denken würde,
worauf sein garantiert nicht von ihm aufzuhaltendes [kurzes] Grinsen ohne Zweifel verweisen
würde; [Geschwätz! denn:] doch Manni, der seit dem Gruselfilm Eat! [DK 1993] nicht mehr
richtig schlafen kann, weil er in den dunklen Stunden immerzu an blinde Augen in schwarzen
Löchern denken muss, ist nicht mehr bei uns in O. Seit drei Wochen schon nicht mehr! Jason
jr. kümmert das alles nicht [kann unsere Gedanken weder lesen, noch mag er sie erraten]. Er
stolpert als erster die drei Stufen des Schmitz ins Schmitz hinauf. Er [Junior] sieht sich nicht
und befühlt ihn nicht und kann nichts über den WA(H)REN Zustand seines Hutes denken.
Unter seinem Hut hat er im Moment wieder einmal für sich und den Hut keinen Platz. Wir
sitzen im Schmitz und bestellen den Kaffee für unseren Junior mit. Und wir? fragen wir uns
und erzählen uns: Unserer ausgeworfenen und dranerzogenen Natur gemäß stecken wir in
dieser [Mode-]Sache eher in einem Manni- als in einem Dianekopf fest. Wir würden beim
Entdecken unserer und/oder des Hutes Zerknautschtheit erschrecken: Huch, wie wir wieder
aussehen. Schlampig und als kämen wir vor einer linksrheinischen Windtrocknung schirmlos
aus einem deutzer oder kalker Dauerregen. Nein! Der erste Nutzen eines Hutes ist in seinem
und des Hutträgers Erscheinen begründet! würden wir vor unserer Meinungsforscherin [wo
mag nur die Schöne geblieben sein? Was ist aus ihr geworden?] antworten. Wir schauen Diane
an, und Diane schaut Jason jr. bei seiner tiefen Nachdenklichkeit und beim klappernden
Milchkaffeeverrühren zu. Let's go! sagt Diane in ihrer und Jason jr.s Lieblingssprache und in
unserer, jetzt wieder weiter benutzten schönen Nutz- und Poetensprache: Möchtest du uns
nicht verraten, was du dir in dir zurecht legst[?]. Und der konzentrierte Jason jr. erinnert uns
wieder einmal an den großfreundlichen Cary Grant, daran, wie er [schauspielernd]
nachdenklich und doch neugierig seinen Wissenschaftskopf über die faltenlosen Strumpfbeine
unserer Marilyn beugt, daran, wie er in Monkey Business [1952] in der konzentriertesten
Konzentration erscheint, als sei er ein durchgeschüttelter, durchgeknallter Kopfloser. Diane
[Ginger] nimmt den Hut von ihm [Cary] ab und legt ihn auf einen leeren Stuhl hinter sich. Ja.
sagt Jason jr. nur und wischt sich über die trockene Stirn. Möchtest du uns [uns allen!] nicht
ein wenig davon verraten, worum es in dir geht. wir und: Fertig denken, zur Formel bringen
und analoge Vorstellungen und lockende Exkurse aus dieser ausufern lassen, kannst du
nachher noch. Für praxeologische Spezifizierungen, relativierende Entkräftigungen und feinste
Formulierungsmodellierungen lassen wir dir auf dem Weg zurück in die Goldgasse genügend
Ruhe und Zeit [langsam gehen wir, und auch einen kleinen Umweg, falls sich einer finden
lässt, machen wir gerne mit]. Ja. sagt Jason jr., und er winkt über die Tische und wenigen
Gastköpfe hinweg in den Verkaufsladen hinein und über den Verkaufsladentresen mit dem
Wechselgeldschälchen hinweg Fräulein Schmitz zu. Sie sieht sein Winken, und er sieht, dass
sie ihn sieht und ruft laut und deutlich zu ihr rüber: Bitte von der Herrentorte. Zu uns und
Diane sagt er: Gerne. Dann wieder zu Fräulein Schmitz [lauter]: Bitte Fräulein Schmitz.
Bringen sie mir doch gleich zwei [!] Stück. Darf ich sonst noch etwas bringen? ruft sie zurück.
Nein! er. Ja, doch! wir und: Aber wir schauen erst mal. Diane möchte nichts zum Kaffee, nur
einen zweiten Kaffee; ein Getränk, das sie in variierenden Zubereitungsformen häufig und
gerne trinkt, auch wenn sie noch tief in der Kindheit steckt. Wir gehen nach vorne und tippen
auf das Glas der Vitrine, zeigen in die Auslage: Leckerweich und zuckersüß? Aber nein! das
spitzbübische Fräulein: Wassersteif und fruchtsauer! Wir verstehen ihren Spaß, lächeln und
haben unsere großen Süssigkeitenkonsumaugen und wünschen zu unserem Kaffee mehrere
[alle, die wir sehen, die da sind. Und es sind nicht wenige!] Zitronenrollen. Zungenwischer
wischen über unsere Lippen, über unsere rasierten Schnäuzerfeldränder. Zurück auf unseren
Plätzen, die erwartungsgemäß frei geblieben sind, sagt Jason jr.: Es soll tatsächlich was
werden. Ach! wir. Ja, ja. er. Und? wir: Und was? Ich hoffe, dass es tatsächlich was wird. er.
Das wird schon. wir. Klar wird das was. meint auch Diane, und auf ihrer Nase landet eine
Schmitzstubenfliege. Diane hält still, schielt nach ihr. Wir schauen gespannt und zählen die
Bleibesekunden. Es sieht aus, als würde das Tier mit angehobenen Hinterteil auf Dianes Nase
[Pardon:] kacken. Doch Junior sagt: Sie putzt sich. Und ja, jetzt putzt sie sich. Diane pustet,
und die Fliege summt unfertig geputzt fort. Siebenunddreißig haben wir gezählt. Also Jason,
was wird oder soll werden? fragt Diane und zieht ihm am Ärmel. Jason jr. lacht. Danke sehr.
bedankt er sich bei Fräulein Schmitz. [Ein privates Paralleluniversum mit Jason jr. am Tisch 3
im Café Schmitz: der sahnewolkige Kuchenhimmel und (=II) der erdhitzige Erkenntnisbrüter.]
Und zu uns sagt er Ja! und Gerne! und sticht, den Mund bereits gefüllt mit
Erwartungsspeichel, sein geschnörkeltes Gäbelchen in das spitze Ende des ersten der beiden
Herrentortenstücke, sticht und forkelt und löst und mault und sagt zu uns: Ja! Gerne! Mein,
ähem, ein, entwuhuff, entänwuf, über, theompf! Kau erst gründlich durch! wir und: Schwatzen
und schmatzen im Duett ergeben innere und äußere Flecken. Flecken am und im Hemd,
Geschwürflecken an und in den elastischen Innereiwänden. Da! Unsere Zitronenrollen
kommen. Wow! kommentiert Diane unsere Verrücktheit, unsere
Zitronenrolleneinsammelleidenschaft. Danke sehr. wir. Fräulein Schmitz legt vorsorglich ein
Gäbelchen für unsere Diane dazu ... Junior schluckt: Mein Entwurf über, über und über die
Theorie.
Lecker! wir: Kunstlemon! Puderzucker! Diane. Und sie steckt die weiße Kuppe ihres
Zeigefingers in den hinter ihren Zähnen schattigen Mund. Jason jr. schiebt seinen Krümelteller
von sich [die beiden Herrentortenstücke sind in ihm verschwunden] und sagt: Ja, ja. Da ist dir,
lieber Jason, sagen wir: also ein kulturell wertvoller Entwurf zu einer weiteren öden
Theorietheorie gekommen. Jason meint: Es ist eher eine nicht zu unterschätzende
Theorieschätzung. Und wie schätzt du die Theorie, das Theoretische allgemein oder eine
bestimmte Theorie speziell? Jason jr. schweigt, und wir erinnern uns an unseren Sigmund P,
den wir damals als noch unbekannten jungen Künstler und Harryschüler beim Schweigen in
einem anderen, in einem hamburger Café haben schweigen sehen dürfen. Diane geht aufs Klo,
wo sie den ersten mehrfach gefilterten Kaffee los werden wird. Wir schauen ihr nach, fühlen
unsere Bauchzipfelgegend noch ohne Muss-Druck. Bleiben und glauben zu sehen, wie Jason jr.
anfängt, einen Anfang für die Darstellung seines Entwurfes aus den fertigen Wurfseilen zu
knoten. Sucht sich noch was zusammen. Junior nimmt ein dreieckig gefaltetes Weichpapier,
das aber für das Notieren von Schriftzeichen nicht gemacht ist, faltet es auseinander und
schreibt Knötchen mühsam auf die breiten, ungemusterten Ränder. Diane kehrt aus der Nische
mit der Damen- und Herrentür, mit dem leeren teakfurnierten Raucherautomaten, mit dem
Tischchen mit drei Häufchen Werbebroschüren und zwei abgegriffenen Illustrierten zurück und
läuft, als sei sie ein [an Jahren] kleineres Kind, aufgekratzt um zwei leere Gasttische drei
Achten. Jason jr. tupft sich mit einer zweiten Papierserviette über die untere Lippe, schiebt
sich mit dem Stuhl vom Tisch, erhebt sich und streckt sich samt Rückenbeule für seine [für
Schmitz VI/08] Vortragsstellung so gerade [grade] es geht. Und diesmal, sagt er lächelnd: ist
es kein Vortrag meiner Gedanken vom Vortag; es ist alles noch ganz frischwarm erdacht. Die
zweite Kaffeerunde kommt. Danke. Und Jason jr. steht da immer noch vor dem Tisch, wartet
höflich, bis Fräulein Schmitz mit dem Bedienen fertig ist. Im kleinen Verkaufsraum und hinter
dem Tresen steht mit einer frischen Schürze Frau Schmitz bereit und weiß, dass sie für ein
Weilchen beim Geschäftemachen ohne ihre Tochter auskommen muss. Ihre Tochter, Fräulein
Schmitz, nimmt den Hut vom Stuhl hinter Diane und setzt sich und hütet den Hut auf ihrem
Schoß. Auch im Schmitz in O. ist unser Junior, ist Jason Zack jr., unsere in Seattle
pensionierte Geistesgröße, wo er in seinem Häuschen einige Jahre zur Nachbarschaft der
Familie Lee gehörte, unser passionierter Weiterdenker und liebender Mitflüchtling aus den
Staaten, kein unbeschriebenes Blatt mehr [s. Schmitz I-V].
[In O. fand unsere Shirley, die mit ihrer Tochter Diane und Jason jr. in der Goldgasse wohnt,
eine bezahlte Arbeit, und Jason jr. eine unbezahlte. In O. ist ihre Lage, ist besonders die Lage
von Shirley zwar prekär und neuerlich bedrohlich; in ihrer Heimat aber (Baltimore, Maryland,
in den Staaten) müssten sie augenblicklich das Schlimmste befürchten. So leben sie in O. in
einer Art verheimlichten Asyl, getragen vom Netz einiger altehrwürdiger wie frisch gewonnener
Zackbeziehungen, und nur die Hingabe an den Alltag gibt ihnen eine gewisse Ruhe, eine
stetige Illusion. Half nicht auch das Dürerkaninchen (Harry) eine erste Attacke im Schatten des
schwarzen Waldes abzuwehren? So ist es! Wir waren dabei. Jetzt, zwei Wochen später, hoffen
wir alle, dass es nach der bösen wie jämmerlich gescheiterten Attacke in der Stadt O. keine
zweite mehr geben wird. Aber glauben wir ernsthaft daran? Ach ... sie und wir sind keine
Hoffnungsfundamentalisten. Wir sind Gewohnheitsmenschen. Soweit diese kleine
Erzählstörung mit einem Teilchen aus dem unlängst bekannt gemachten Hintergrund.]
Jason Zack jr. spricht im Schmitz und zwar Folgendes:
Ich sage mal so: Eine Theorie kann so geschätzt werden oder so, also anders. Die einen sagen
es so: Eine Theorie muss die Wahrheit aus dem Dunkeln, in dem sie lagert, hervorholen. Die
anderen sagen anderes: Im Dunkeln ist nur das Dunkle. Und in einer Theorie ist nur Theorie,
die zur Erhellung des Erhellten gemacht wird. Diese beiden Schätzungen schätze ich sehr, will
keine der beiden gleich verwerfen. Die eine beherbergt ein Vertrauen zu einer wahrheitsprallen
Welt, in der man Tag für Tag wandert und immer weitere Häppchen Wahrheit einsammeln
oder ausgraben kann. Die dunkle Welt wird so jeden Tag kleiner und die helle größer. Das ist
doch eine schöne Geschichte über das Theorieschöpfen und Lichtmachen. Der anderen
Theorie-Schätzung ist das metatheoretisch zu wenig anspruchsvoll, zu leicht gewogen. Also
kommt man hier zu noch schöneren, weil längeren Sätzen: Die Wahrheit steckt nicht in der
Welt verborgen; jede mit Begriffen umspannbare Welt ist vielmehr selber gänzlich wahr oder
unwahr. Ich sage das mal so: Die Welt selber ist eine theoretische Schöpfung, ist jeweilig, und
ist im momentanen Moment ein grenzenloses Drumherum-Drin-Ding, und ist wahrscheinlich
menschlich gar nicht objektiv objektivierbar, bleibt so objektiviert immer eine humanisierte
Welt und darin immer eine unreine Vorstellung von ihrer allgemeinsten wie
fremdspezifischsten Allgemeinheit. Reine Vorstellung mag ich unsere ehrenwerten
Welttheorien nicht nennen; denn es ist die allgemeinste Tatsachen-Welt, die zum Beispiel mir
arg und anderen noch viel ärger in den Arsch tritt. Eine Tatsache, die sich kaum jemand
freiwillig und rein vorstellen würde. Eine vielseitige Note zur Theorie als Anschauung, zur
Wahrheit als etwas Gemachtes schippt in den Schätzungsstreit die Vernunft hinein. Die
Vernunft schmeckt, wie ein Kuss Gottes schmecken müsste. Einige sagen, dass sie eben dies
sei: ein eben nicht pflegeleichtes Liebesgeschenk Gottes. Da gibt es also die bloß gemachten
Wahrheiten durch die Anschauung, Sortierung, Spekulation der vermeintlichen Weltzeichen,
Wahrheitsspuren und daneben, dadrüber die außerweltlich höhere Vernunft-Existenz-Wahrheit
als menschliche Qualität. Das ist eine der schönsten Theorien überhaupt, wenn auch
fürchterlich zur verliebtesten Klugheit verpflichtet, eine Pflicht auf krümmsten Wegen zur
wundersamsten Liebestollheit. Jemand, der sich besser darin auskannte, machte qua Vernunft
viele schöne Sätze, von der nur die ersten beiden fett gedruckt wurden:
Was vernünftig ist, das ist wirklich.
Und was wirklich ist, das ist vernünftig.
... dass das Dasein nur zum Teil erscheine, und nur zum Teil Wirklichkeit ist.
Alles was vernünftig ist, muss sein!
Zu dieser ausgeklügelten Verwirrungs-Theorie gibt es die Geschichte von der Welt als
Vernunftgeist, die vereinfacht Weltgeist genannt wird. Und dieser Geist war im frühen
Neunzehntenjahrhundert:
... in der Wirklichkeit so sehr beschäftigt und nach außen gerissen, war abgehalten, sich nach
innen und auf sich selbst zu kehren und in seiner eigentümlichen Heimat sich zu genießen.
Eine spannende Geschichte, in der der Philosoph zum Erzähler wird: Fast wäre der Weltgeist
außen, denn gibt es ein Außen, so ist zu hoffen, dass es auch ein Äußeres gibt, aus der
Wirklichkeits-Welt gefallen. Was aber zum Glück nicht geschah. Und so konnte der Weltgeist
die Wirklichkeit erst einmal wieder retten [ausfegen], was ihm, da es wider seinem doch eher
hedonistischen Naturell gelang, hoch anzurechnen ist. Aber das sind alte Geschichten um
jenen dekorierten Philosophie-Angestellten und wilden Bravheitskerl, der die Theorie als
philosophische Theorie durch seinen freien Geist [= weltgeistliches Werkzeug] hindurch gejagt
und hindurch gezwungen und gequetscht [und gepresst und getrocknet von
Dickebücherstreichen] zu vollenden gedachte: und seitdem darf man den Weg durch sein Werk
frei erahnen und bahnen und glatt bohnern, um in ein feines Theoriewerk namens System zu
gelangen.
Leider werden wir in diesem System [Paradies] hockend immer noch von einem Gefühl
gezickt, und wir ahnen wie im Traum gekniffen und erwacht, dass das System eben ein
System ist. Wir schauen um uns und in uns, und ohne die Erlösung von den theoretisierenden
Mühen in uns wahrzunehmen, rauschen um das empfohlene System und rauschen somit um
uns ungezählte Theorien herum; wir bekommen einen fürchterlichen Kopf und schließlich das
Fürchten.
Dass uns diese Geschichte so geschah, musste so geschehen und ist lange her. Wir krochen
raus und erholten uns und suchten woanders herum. - Überhaupt platzen weiterhin betitelte
Theorien wie Pilze aus den Begriffsköpfen, und manche [genießbare] werden hin und her
gewälzt, ergänzt, geputzt, und die Geschichte walzt nicht wenige platt, und die Geschäfte
verramschen neuere Theorien immer schneller. Da gilt der Spruch: Eine Theorie muss passen!
Da kommt jemand mit einer schönen Theorie, und es heißt nur: Die ist uns nicht rund genug.
Die passt nicht in unser Programm. Die hat nicht das gewisse Etwas. Sie verstehen? Für diese
zweifelsohne wunderbare Theorie um ihre Weltraumideen herum haben wir leider keinen Platz.
Oder: Wir nehmen aus logistischen Gründen nur Theorien, die strengster Logik verpflichtet
sind. Schade.
Der bekannte Künstler Sigmund P, mit welchem ich seit vielen Jahren unregelmäßig
Strombriefe austausche, von dem ich lange Zeit weder eine seiner Erscheinungen noch eines
seiner Werke kannte, von dem ich heute als P Kunst Kenner das Frühwerk Das arme
Würstchen muß wieder einmal alleine tanzen [1964] am liebsten mag, schrieb mir einmal über
das Theoretische in seiner Arbeit:
Das Theoretische ist in meinem Tun vielleicht etwas Doppeltes, Mehrfaches, ein immer
Vorläufiges, das über die erhoffte Eindeutigkeit ansich erlischt, und erst wieder leuchtet, wo es
eine Theorie des anderen aktiviert oder begegnet. Um so näher die Theorien in der
Kommunikation als eine ähnliche bis gemeinsame Deutung oder Denkung oder Spürung sich
kommen, um so geglückter erscheint die meinige, erscheinen sie.
Das ist doch eine schöne Theorietheorie, die ich sehr schätze. Ich habe Sigmund P, dessen
Existenz und Adresse angenehmerweise mir seine engsten [heute hier anwesenden] Freunde
verrieten, in der Hoffnung, ihn in dieser mir zwar geläufigen, jedoch nicht mütterlichen
Sprache im Wesentlichen verstanden zu haben, geantwortet, und zwar so:
Bevor ich heute den Netzstecker ziehe, noch schnell zwei Bemerkungen zu ihrer schönen Mail
vom Vortag zu ihnen gestromt. Ich sende ihnen erfreut meinen dankbarsten Dank für ihre
kleine Schrift. Zuerst und zuletzt widerspreche ich ihnen nicht. Nur das Wort Kommunikation
scheint mir zu spezifisch. Darf es nicht Berührung heißen? Ich ging heute an der Kinzig entlang
in Richtung Uffhausen. Die Theorie, dachte ich auf dem Radfahrerfernweg, über dem immer
wieder strampelnde Radfahrer in engen Rückentaschentrikots auf gepäckträgerlosen und
klingellosen Rädern an mir vorbeischossen, hinter Liebespärchen und Hundehalter um Platz
zischten, sich über vorgebogene Lenker zogen und Luft ein- und auskeuchten, als rauschte
hinter ihnen ein gelber Hagelhimmel gefährlich nach und näher, was aber nicht - und anderes
auch nicht - der Fall war: sie kann eine kontemplative Versicherung gegenüber
Überraschungen sein. Ob so eine Versicherung hält, was sie verspricht, entscheidet nicht das
enge Köpfchen im Kopf, entscheidet der breitere Ernst. Und dieser ist zuerst Sache des
Schicksales, der Erfahrung, der im Geschehen losen wie undurchdringbaren Realität; und sie
ist das, ist lose und undurchdringbar, weil wir mit uns in ihr als in einem Ganzen stecken und
darin und daran seiend auch ein individuelles Nichts sind.
Sigmund P antwortete Wochen später und kurz:
Das vorletzte Wort gefällt mir nicht. Aber es steckt leider auch im Letzten. Sind sie nun doch
ein idealistischer Dialektiker? So ein diätetisches Delikatessenschwein ...
Und ich gleich zurück:
Nein! Bin ich nicht! Sie Tapetenflegel!
Und er gleich zurück:
Dann entschuldige ich mich für die halbe Beschimpfung. Sie Altschlegel!
Und ich:
Angenommen!
Und er:
Was sonst?
Liebe Freunde des Schmitz, ich möchte heute und jetzt mal das sagen, was in einem kleinen
Kreis mit mir dran unter der Helligkeit des kantigen Kunstheimes von St. Georgen im letzten
Spätsommer der P Schüler Franz Thans aus seiner letzten Lektüre wiedergab: Die Theorie ist
nicht - wie von manchem Chefideologen oder Chefideologenfan behauptet – Chefsache; wie sie
auch nicht die Konsequenz, Folge einer von ihr trennbaren Praxis ist. Theorien sind alltäglich,
gewöhnlich, sozialbezüglich, immer einseitig und ausufernd, niemals totalitär, und doch
temporär das Aufdrängende verhüllend: jede Theorie beginnt als Praxis von Sprache und
endet mit ihr. Wer mehr von ihr behauptet, spricht theoretische Sätz – aber wird ihren Sinn
nicht erweitern, nicht tiefer [nicht erhöhend] ergründen können.
Fräulein Schmitz räumt auf. Schlimm sieht es auf unserem Tisch aus. Diane steht bei Frau
Schmitz und nimmt, weil sie mit seinem Geld vorne zahlen ging, das Wechselgeld entgegen.
Draußen auf dem Schillerplatz beugt sich ein Mützenmann über einen Müllsammler [Kübel].
Einen viertel Euro gibt es für so eine leere Plastikflasche, und so eine sehen wir ihn
herausfischen und in einen blauen Plastiksack stecken. Viel bekommt er für den Inhalt des
vom Sammelgut gebeulten Plastiksack nicht. Aber immerhin. Etwas schon. Jason jr. schaut mit
uns aus dem Fenster [vor dem in Inneren das Zwiebackwerbeschild steht] und meint: Es sind
Grale, die er sucht und findet. Grale des Elends und des Glücks.
aci
(Münster im Oktober 2008)
* Entwurf zu Popshowmix
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